Networks of Desire – Eine neue Perspektive in der Konsumentenforschung
Der Entwickler des Konzepts der Netnographics, Robert Kozinets, hat 2017 einen mutigen Blick auf einige unerforschte Zusammenhänge des Begehrens von Konsumenten geworfen. Er hat erkundet wie Begehren mit den Technologieplattformen, die es umformen und in Bahnen lenken, eine vielschichtige Verbindung eingeht.
Unterstützt wurde Kozinets – er lehrt an der University of Southern California (USA) – von zwei Kollegen: Anthony Patterson und Rachel Adams, beide forschen beziehungsweise lehren Marketing an der University of Liverpool (UK). Ihre Studie heißt: Networks of Desire: How Technology Increases Our Passion to Consume. Sie erschien im Journal of Consumer Research (Volume 43, Issue 5, February 2017, Pages 659–682).
Zunächst stellt sich die Frage: Was ist Begehren? Aus Sicht der Konsumentenforschung – Consumer Research – lautet die pragmatische Antwort: Begehren ist ein zentrales Konzept.
Wissenschaftlicher Konsens im Marketing ist, dass Begehren die Marktökonomie in Gang hält, indem es individuelles Verlangen auf käufliche Objekte lenkt. Der Unterschied der Perspektiven zwischen beispielsweise der Psychologie, Philosophie oder Psychoanalyse und der Konsumentenforschung liegt vor allem in der Bedeutung kommerzieller Motive.
In Networks of Desire wird ein verbindender Ansatz verfolgt. Zunächst wird eine digitale, virtuelle Ebene eingeflochten. Dadurch entmaterialisiert sich das Konzept von Begehren, greift über auf das Universum des Scheins. Die imaginäre Sphäre repräsentiert beispielsweise das Internet, aber auch jede andere mediale Dimension.
Die Autoren gehen jedoch einem noch umfassenderen Ansatz nach. Dazu nehmen sie als empirischen Bezug die inflationäre Entwicklung der Food-Fotografie, insbesondere in ihrer nicht oder semi-professionellen Variante. International ist das Bezugsfeld unter dem wenig schönen Namen Food Porn bekannt. Der Begriff verzeichnet eine Steigerungsrate von 500 % in der Google Trend Search – seit 2009, der Beobachtungszeitraum war bis 2015. Je Minute vermehren auf Instagram etwa 90 Fotos den Bestand von 54 Millionen mit #foodporn gekennzeichneten Aufnahmen (2015). Die Nutzergruppe der 13- bis 32-Jährigen lädt zu etwa zwei Dritteln monatlich entsprechende Bilder hoch. Man kann von hoher Popularität des Themas sprechen.
Was hat das aber mit einem erweiterten Verständnis von Begehren zu tun? Die Autoren antworten dazu mit Blick auf drei unterschiedliche Nutzergruppen. Die in eher geschlossenen Kanälen Kommunizierenden, etwa Freundesgruppen auf Facebook, erfahren im Lauf der Zeit eine Disziplinierung und Sättigung des Antriebs, der ursprünglich stark lustbesetzt war. Begehren wandelt sich in kognitiv greifbares Interesse, dieses wiederum ist volatil und kann sich auch anderen Themen zuwenden, etwa der sozialen Einbindung des Speisegenusses oder der Ernährung in ihrer leiblichen Konsequenz.
Community-Entwicklungen
Wo Food-Bilder in spezialisierten Foren geteilt werden, finden zwei Entwicklungen statt. Erstens verschwinden die individuellen Körper der am Speisevorgang Beteiligten aus den Aufnahmen. Die Objekte des Begehrens werden isoliert. Zweitens ergeben sich Kategorien, in welche das Bildinventar einsortiert wird. Von speziellen Zubereitungsarten oder Ausgangsmaterialien bis zu Gelegenheiten des Verzehrs. Zugleich wandelt sich die kulturimmanente Haltung des Teilens von Nahrung – ehedem Brot und Wein – in ein miteinander Teilen von Bildern. Wobei der Vorgang zugleich von Begehren getrieben ist, einem Begehren, das vom Netzwerk, in dem es agiert, nicht zu trennen ist.
Das Beispiel der Netzwerke zeigt aber auch, dass das jeweilige Selbst der an den kollektiven Prozessen von Produktion, Distribution und Konsumtion Partizipierenden eine Erweiterung erfährt. Das Selbst steht in unlösbarer Verbindung zu materiellen, sozialen und technologischen Faktoren. Das Begehren der Subjekte tangiert und geht über in Transmissions- und Aufzeichnungsmaschinen, Unternehmen, Institutionen. Es wirft gradweise den leiblichen Körper ab. Wird, so die Autoren, zur Wunschmaschine (desiring machine). Dabei greifen sie auf einen zentralen Begriff der Autoren Gilles Deleuze und Félix Guattari aus 1972 (Anti-Ödipus) zurück.
II.
Das Verständnis von Networks of Desire nach Kozinets, Patterson und Ashman baut auf diesem Konzept von dezentriertem, vom leiblichen Träger abgelösten Begehren auf. Man könnte sich den Weg einfacher machen, indem man von der anderen Seite der Begehrenskonzeption herangeht, derjenigen ohne primär kommerzielle Fokussierung auf das, was Konsumenten bewegt. Doch dann wäre man in Spielarten der poststrukturalen Psychoanalyse, die weder Psychoanalyse sein wollen, noch poststruktural – heikel.
Was sich im intellektuellen Diskurs seit den Achtzigerjahren des zwanzigsten Jahrhunderts zunehmend verflüchtigte und, mit viel gutem Willen, noch im Konzept von Technocapitalism Spuren hinterlässt, heben die Autoren der Networks of Desire auf das Niveau der Disziplin Consumer Research. Die originär von Deleuze und Guattari geprägten Begriffe kommen dem Verständnis dessen, was empirisch in den Begehrensnetzwerken abläuft, entgegen. Ob es die Konzeption von Territorialisierung, Deterritorialisierung und Reterritorialisierung ist, die des organlosen Körpers und der Wunschströme, die limitativen beziehungsweise freien Synthesen des Wunsches – alles ist geeignet, jeweils etwas partiell anderes zu erklären. Und … und … und … heißt es in der ursprünglichen Version.
Erklärungsgehalt
Der Anschluss an die Konzeption des Wunsches von Deleuze und Guattari verbindet aktuelles ökonomisches, psychologisches und soziales Geschehen (Virtualisierung, Digitalisierung) mit der Möglichkeit intellektueller Reflexion. Was dadurch gewonnen wird, ist der Anschluss an theoretische Konzeptionalisierung, eine grundlegende Domäne universitärer Praxis.
Auf diesem Fundament gedeihen in Networks of Desire zugleich und kritisch fundamentale Fragen an die von Begehrensnetzwerken – Subjekte, Maschinen, Technologien – durchzogene Kultur. Eine Auswahl: Verlagern sich kollektive, hedonistische Gelage, die nach Georges Bataille – so Kozinets, Patterson und Ashman – als Gegenpole von kollektiver Aggression sublimierend wirken in gigantische Online-Wunschmaschinen? Destabilisieren diese kulturelle Traditionen und soziale Systeme? Wie entwickeln sich diese? Entstehen deterritorialisierende Betriebseinheiten, wenn Begehren von leib-seelischen Körpern in digitale Netzwerke fließt? Welche Wunschkonstellationen resultieren aus den exhibitionistischen Triebregungen, alles in virtuellen Netzwerken als Erster, als Erste öffentlich machen zu sollen?
III.
Die empirische Basis der Untersuchung Networks of Desire besteht aus zwei Komponenten. Neben umfassenden ethnografischen und netnografischen Datenerhebungen über fünfzehn Jahre hinweg sind dies Statements von knapp zwanzig interviewten Bloggern, Stylisten, Konsumenten und Hobbyköchen. Das Verhältnis von web-getriebenen Analysen und tiefenpsychologischen Befragungen lässt sich zweifellos optimieren. Auch ist der Bezugsrahmen von im Internet geteilten Food-Fotografien – sie heißen vor allem ihrer oft ordinären Präsentation wegen Food Porn – untersuchungstechnisch unschwer erweiterbar. Nachträglich erwähnt sei, dass auch das Phänomen der fresssüchtigen Übertreibungen zu den oben genannten Wirkungen offener Foren zählt – Maßlosigkeit.
Anschlüsse
Die Wahl eines so fundamentalen begehrensökonomischen Sujets wie das der Ernährung ist sicherlich nicht ohne tiefere Absicht erfolgt. Sie verweist auf die zunehmende Dominanz des Optischen und Visuellen im Wunschmaschinenkosmos des Begehrens. Nb: Wer weiter nach Erkenntnissen sucht, findet in der Arbeit des Traums mehr dazu. Man sollte dabei vor allem auf die produktionstechnische Seite schauen und weniger auf die der Deutung.
Die Arbeit von Kozinets, Patterson und Ashman ist eine der wenigen mutigen Versuche in den vergangenen Jahren, das Verständnis von Begehren (Desire) in einen größeren ökonomischen Rahmen – Dinge, Abbilder und Technologien – zu stellen.
Ausgeblendet bleibt das im engeren und klassischen Verständnis Ökonomische, das Verhältnis von Investition und Return-on-Investment auf Makro- und Mikroebene, die Frage danach, wie die Networks of Desire mit der Generierung, Distribution und Absorption von Mehrwert in finanziellen Kategorien umgehen – der für die unternehmerische Praxis entscheidenden Akzentuierung. Marketingtechnische Kunst und Können ist, aus dem Genießen Anderer, egal wie umfassend es sich organisiert, auf Dauer profitable, weil befriedigende, Beziehungen zu entwickeln.
Zieht man eine Linie vom Genießen zum vormalig dominanten Konzept des Nutzens, so sind die Konsequenzen einer Affluent Society erkennbar. Dass die beschriebenen körperlosen Netzwerke aber auch in Umgebungen bitterer Armut ihre betäubende Faszination auf uns Menschen ausüben und uns beruhigen können, macht sie nicht unbedingt erstrebenswerter.
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Beispiel aus: „TOP THREE FOODPORN RESULTS
Source: Results of a Search of “Google Images” Search Engine conducted on 27 April 2016 by the first author [R. Kozinets]“
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